Samstag, 27. April 2024

Soziale Kipppunkte im Klimawandel
Große Veränderungen mit Zuversicht bewirken

Sogenannte soziale Kipppunkte geraten beim Klimaschutz zunehmend in den Blick: Das Verhalten einiger weniger kann auf das Verhalten von vielen erheblichen Einfluss nehmen. Wie genau geht das vonstatten?

27.02.2023
    Illustration: Ein Ball in Form einer Erdkugel balanciert auf einem Brett und droht hinunterzukippen.
    Das Konzept der sozialen Kipppunkte spielt in Bezug auf den Klimawandel eine immer größere Rolle. (Getty Images / Daniel Grizelj)

    Was sind soziale Kipppunkte?

    Wenn eine kleine Veränderung eine abrupte und oft unumkehrbare Veränderung auslöst, dann befinden wir uns an einem sogenannten Kipppunkt. Eine Kaffeetasse am Rand des Tisches, die, minimal verschoben, plötzlich fällt. Oder der berühmte Schmetterlingseffekt, nach dem ein Flügelschlag einen Sturm auslösen kann.
    Das Konzept der sozialen Kipppunkte sucht den Anstoß zu solchen Veränderungen im menschlichen Verhalten. Dem liegt das Prinzip sozialer Ansteckung zugrunde. Denn es sind vor allem andere Menschen, die Menschen zum Handeln bewegen. Als gesellschaftliche Wesen wollen wir dazugehören und schauen uns Verhaltensweisen von anderen ab – ein Urinstinkt.

    Wertewandel und Herdeneffekt

    Ein wichtiger Hebel sind soziale Normen, also ungeschriebene Regeln in einer Gemeinschaft - etwa, dass man bei Inlandsreisen besser die Bahn als das Flugzeug nimmt. „Soziale Normen liefern ein Skript, eine Vorlage dafür, wie sich die oder der Einzelne in bestimmten Situationen verhalten sollte“, sagt der Sozialpsychologe Immo Fritsche von der Universität Leipzig. „Damit haben sie eine unheimliche Macht über uns, auch wenn wir davon gar nichts bemerken.“
    Eine besondere Kraft entwickeln sie jedoch dann, wenn sie ins Bewusstsein gerückt werden. Das Gefühl, keine Kontrolle über die Folgen eigener Handlungen zu haben, nicht wirkmächtig zu sein, führt häufig dazu, dass Menschen untätig bleiben. Als Teil einer Gruppe können Menschen das Gefühl von Wirkmächtigkeit zurückgewinnen.
    Je mehr Menschen an eine Überzeugung glauben, umso intensiver wirken sie daran mit, sie umzusetzen. Um zu bewirken, dass sich in der breiten Bevölkerung das Verhalten ändert, ist es dabei nicht nötig, gleich von Anfang an alle zu überzeugen.
    Wie Damon Centola von der Universität Pennsylvania gemeinsam mit anderen Forschern 2018 in einer Studie zeigen konnte, ist der Kipppunkt, ab dem sich gesellschaftliche Normen ändern, schon früher erreicht, nämlich sobald eine kritische Masse von etwa einem Viertel der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass neue soziale Konventionen nötig sind.

    Welche sozialen Kipppunkte gibt es beim Klimaschutz?

    Das Konzept der sozialen Kipppunkte spielt in Bezug auf den Klimawandel eine immer größere Rolle. Auch wenn man hier beim Begriff Kipppunkt zunächst an die sechs großen Kippelemente denkt, die laut Fachwelt die Erderwärmung vor allem vorantreiben: die Eisschmelze in Antarktis und Grönland, das Auftauen der Permafrostböden, die Abschwächung der Atlantikzirkulation, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes und das Korallensterben.
    Laut Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber lassen sich solche Kippvorgänge im Erdsystem nur eindämmen, wenn wir auch gesellschaftliche Kippvorgänge anstoßen, so dass sich klimafreundliches Verhalten in der Gesellschaft stark beschleunigt.
    Die Energiewende bis zum Jahr 2045 werde scheitern, wenn man sie als rein technologische Transformation angehe, mahnt die Arbeitsgruppe der Wissenschaftsakademien in ihrer aktuellen Stellungnahme. Deutschland könne nur dann so schnell klimaneutral werden, wenn die Nachfrage nach Energie sinke – wenn Wirtschaft, Haushalte und Verkehr also ihren Verbrauch zurückschrauben.

    Konsumverhalten als Kippelement

    Entscheidend für das Einhalten des 1,5-Grad-Ziels ist also der soziale Wandel. Das zeigt auch eine Studie des Exzellenzclusters „Klima, Klimawandel und Gesellschaft“ (CLICCS) der Universität Hamburg. Bisher sei dieser jedoch unzureichend. Es gebe zwar immer mehr Klimaschutzbewegungen und -projekte und auch Gerichtsurteile zu Gunsten von Klimabelangen. Bei den „gesellschaftlichen Treibern" Unternehmen und globaler Konsum sehe die Lage aber anders aus.
    Ansätze für mehr sozialen Wandel gibt es reichlich: Ein Team am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat 2020 in einer Studie Fachleute weltweit befragt, welche sozialen Kippelemente sie sehen. Dabei kamen mehr als 200 unterschiedliche Vorschläge heraus, etwa die Umwidmung staatlicher Subventionen, Digitalisierung, Vorgaben für Investitionen, Proteste auf der Straße oder Fleischersatzprodukte.
    Wichtig ist laut Studie auch die Aufklärung über den Klimawandel und die moralischen Implikationen in Bezug auf die Emissionen.
    Was würde uns ermöglichen, in Bezug auf die Klimakrise mehr zu tun als jetzt, wenn auch die Erfolgsaussichten geringer geworden sind im globalen Maßstab - und zwar einfach zum Beispiel aus reiner Selbstachtung? Das fragt der Philosoph Thomas Metzinger und spricht von einer neuen "Bewusstseinskultur". Es geht darum, zusammen zu überlegen, was gute und wertvolle Bewusstseinszustände sind. Und zwar, sagt Metzinger, "ich drücke das jetzt mal ein bisschen romantisch und religiös aus, um des eigenen Seelenheils Willen".

    Wie wichtig sind Einzelne, um soziale Kipppunkte zu erreichen?

    Das Konzept der sozialen Kipppunkte kann Menschen Zuversicht geben, dass sie trotz eskalierender globaler Krisen einen relevanten Beitrag zum Klimaschutz leisten können.
    „Es gibt durchaus einige Forschung dazu, was jeder Einzelne tun kann“, sagt die Analystin und Klimakommunikatorin Susan Joy Hassol. „Die fünf wichtigsten Dinge sind: ein Kind weniger bekommen, ohne Auto leben, Flugreisen vermeiden, grüne Energie beziehen und vegetarisch oder vegan leben.“
    Und es braucht vor allem mehr Menschen, die über ihr klimafreundliches Verhalten reden. Geht es um die Klimakrise, schätzen viele Menschen schlichtweg falsch ein, was die Mehrheit denkt. Das trägt dazu bei, weniger klimabewusst zu handeln.
    Schon das Gespräch über die Klimakrise verändert die wahrgenommene soziale Norm. Und damit – nach dem aktuellen Stand der Forschung – auch die Bereitschaft, etwas zu unternehmen. Der lebensbedrohende Kontext beim Klimawandel schafft zudem günstige Rahmenbedingungen für einen sozialen Kipppunkt.
    Dass ein Mensch einen großen Unterschied machen kann, zeigte Eckardt Heukamp, der letzte Landwirt von Lützerath. Außer ihm war in dem kleinen Dorf im Braunkohleabbaugebiet niemand mehr verblieben. Heukamp stellte sich, unterstützt von der Klimaprotestbewegung, dem Energiekonzern RWE lange in den Weg.
    Auch wenn der Ort inzwischen komplett geräumt wurde: Der Widerstand hat sehr viel Aufmerksamkeit gebracht. So wie der von Greta Thunberg, die alleine in Schulstreik ging – und damit eine weltweite Protestbewegung losgetreten hat.
    Die fünfzehnjährige schwedische Schülerin Greta Thunberg bei Ihrem Schulstreik am 28. August 2018. Sie sitzt in eingehüllt in einem gelben Frisennerz vor dem Riksdagen, dem schwedischen Parlamentsgebäude, um das Bewusstsein für den Klimawandel zu schärfen.
    Greta Thunberg bei Ihrem Schulstreik vor dem Riksdagen, dem schwedischen Parlamentsgebäude, im August 2018. (Getty Images / Michael Campanella)
    Wie sich das Wissen um Klimaschutz fördern und klimagesundes Verhalten erreichen lässt, erforscht das Institute for Planetary Health Behavior an der Universität Erfurt. Ein wesentlicher Punkt ist die Risikowahrnehmung, sagt die Direktorin Cornelia Betsch, die mit ihrem Team zu Verhalten und Einstellungen in der Klimakrise forscht. „Viele Leute wissen nicht, wie der Klimawandel sich auf unsere Gesundheit auswirkt. Und wer das aber weiß, der verhält sich auch anders“, sagt sie.
    Es geht aber nicht nur darum, durch Wissensvermittlung, Einstellungen zu ändern, sondern auch um die Akzeptanz von politischen Maßnahmen, die größere Prozesse anstoßen können - beispielsweise eine geringere Besteuerung von klimafreundlichen gegenüber klimaschädlichen Lebensmitteln, sagt Betsch. Die Bevölkerung muss mitgenommen werden.
    Umfragen zeigen zudem, dass die Öffentlichkeit sich eine Führungsrolle der Regierung wünscht, wenn es darum geht, wie Einzelne ihren Teil zum Klima und Umweltschutz beitragen können.

    Welche Kritik gibt es an dem Konzept sozialer Kipppunkte?

    Doch es gibt die Kritik, dass Individuen beim Klimaschutz zu stark in die Verantwortung genommen werden. Als Sinnbild gilt der CO2-Fußabdruck. Denn wer die Schuld bei Einzelnen sucht, sucht sie eher nicht woanders.
    „Wer über individuelle CO2-Fußabdrücke redet, übersieht wirklich, dass große Unternehmen etwa 70 Prozent der Umweltverschmutzung verursachen“, mahnt Jennifer Marlon, Wissenschaftlerin an der Yale School of the Environment.
    Einige große Konzerne, sagt Marlon, haben ein massives Interesse daran, von ihrer Verantwortung abzulenken. Anfang der 2000er-Jahre habe es eine Reihe von PR-Kampagnen von Konzernen wie dem Energieunternehmen BP gegeben, die in Sachen Klima- und Umweltschutz den Blick auf das Konsumverhalten richteten. Nestlé veröffentlichte 2021 eine "Klimastudie", die Kritiker als "Greenwashing" bezeichneten.
    Ethisches und ökologisches Konsumverhalten kann zudem zum Privileg von Menschen werden, die es sich leisten können, kritisiert Sighard Neckel, Soziologe an der Universität Hamburg. Das eigene umweltbewusste Verhalten hervorzuheben, um so eine soziale Norm zu schaffen, berge sogar Gefahren für eine Gesellschaft.
    „Man muss tunlichst vermeiden, dass ökologische Formen der Lebensführung zu einer Attitüde werden, mit der sich bessergestellte soziale Kreise von anderen eben auch sichtbar abgrenzen können und vielleicht auch sichtbar abgrenzen wollen“, warnt Neckel.

    Der 'Klimaschatten' beinhaltet zum Beispiel, wen du wählst, ob du dich für einen Systemwandel einsetzt oder für die Einrichtung von Fahrradwegen in deinem Viertel kämpfst. Oder auch, wo du dein Geld anlegst und welche Unternehmen du unterstützt.

    Die Klimakommunikatorin Susan Hassol setzt auf einen Ansatz, den sie „Klima-Schatten“ nennt.
    Es geht nicht nur um individuellen Konsum, sondern auch darum, dass Einzelne die Strukturen beeinflussen. „Die Psychologie des Umweltschutzes konzentriert sich mittlerweile viel mehr auch auf politisches Handeln von Einzelnen“, sagt auch der Sozialpsychologe Immo Fritsche.
    Denn: Es gibt Menschen, die Autofahren und Fleisch essen – und die trotzdem einen kleineren Klimaschatten haben als Menschen, die auf ein Auto verzichten. Menschen wie der Landwirt in Lützerath, die sich Konzernen und Politik in den Weg stellen.
    Quellen: cwu, Kathrin Kühn, sowie die verlinkten Beitrage aus Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur